Etwa jede:r zehnte Österreicher:in hat eine chronische Nierenerkrankung. Doch nur ein Zehntel der Betroffenen weiß davon. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnet damit, dass Nierenkrankheiten in der kommenden Dekade in die Top 5 der häufigsten Todesursachen weltweit aufsteigen. Im Mai verabschiedete sie deshalb eine Resolution zur Priorisierung der Nierengesundheit.* Wie man dieser Entwicklung begegnen sollte, erklärt der Nierenspezialist Prim. Univ.-Prof. Dr. med. Marcus Säemann (Klinik Ottakring Wien).

Prim. Univ.-Prof. Dr. med. Marcus Säemann
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Internist, Facharzt für Nephrologie Nieren & Diabetes, Klinik Ottakring in Wien
Warum wissen so wenig Betroffene, dass sie an einer CKD leiden?
Das emotionale Image der Niere ist schlechter als beispielsweise das vom Herz. Sie erhält deshalb weder von Mediziner:innen noch von Nichtmediziner:innen die Aufmerksamkeit, die ihr gebührt: Schließlich ist sie mit der Hülle und Fülle an Aufgaben (Stoffwechsel, Blut- und Knochenbildung, Säure-Basen- und Elektrolythaushalt), die sie im Körper innehat, ein wunderbarer Indikator für die Gesundheit des gesamten Organismus. Doch leider wird die Niere noch immer viel zu selten mitgedacht, sodass Nierenprobleme ungesehen bleiben.
Welche Folgen hat die fehlende Awareness für Betroffene und das Gesundheitssystem?
Die Niere gilt als „silent killer“ („stille Mörderin“). Denn Betroffene spüren Nierenprobleme lange nicht, sie schleichen sich unbemerkt ein. Erst, wenn die Nierenfunktion schon erheblich eingeschränkt ist, fällt das auf – und dann sind das Leid größer und die Behandlung aufwendiger sowie teurer als in frühen Krankheitsstadien.
Wer sollte Nierenparameter bestenfalls systematisch im Zuge einer Vorsorge kontrollieren lassen?
Viele Volkskrankheiten – Herzkreislauferkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Übergewicht (Adipositas) – bergen das Risiko einer CKD. Risikopatient:innen sollten deshalb mindestens einmal im Jahr ihre Kreatininwerte im Blut und ihre Albuminwerte im Harn testen lassen.
Haben Sie Fortschritte bei der Behandlung chronischer Nierenerkrankungen zu berichten?
In den vergangenen fünf Jahren machte der Fortschritt einen Quantensprung: Bis dahin haben wir lediglich an der Einstellung der Grunderkrankungen geschraubt, um eine daraus folgende Nierenschwäche in Schach zu halten. Jetzt gibt es neue Wirkstoffe aus der Apfel- und Birnenbaumrinde: Die SGLT2Hemmer bremsen den Abbau der Nierenfunktion wirkungsvoll – Betroffene gewinnen so bis zu zwei Jahrzehnte zusätzlich ohne Nierenersatztherapie (Dialyse). Bei Diabetiker:innen vom Typ 2 verlangsamen neue Aldosteronantagonisten eine damit einhergehende CKD. Und auch die berühmte Abnehmspritze hilft.
Was müsste passieren, damit diese neuen Möglichkeiten frühzeitig und breit zum Einsatz kommen?
Nierenwerte kann jede:r Hausärztin/-arzt bestimmen (lassen). Fände im Rahmen ganzheitlicher Vorsorge auch ein risikobasiertes Screening statt, könnten viele Erkrankungen, auch chronische Nierenerkrankungen, frühzeitiger erkannt und behandelt werden. Ich sehe Betroffene oft erst, wenn ihre Nieren schon arg geschwächt sind – im Schnitt: minus 30 bis 50 Prozent Funktionalität. Da gilt es rasch zu diagnostizieren und zu therapieren, um zu erhalten, was noch geht. Neben der Früherkennung brauchen wir gelenkte Pfade für die Betroffenen – derzeit schlagen wir uns quer durchs Gebüsch, wir brauchen aber strukturierte Zufahrten zu den Autobahnen! Jede:r Mediziner:in muss wissen, wann wer wie behandelt und gegebenenfalls wohin zur Weiterbehandlung geschickt werden muss. Das braucht eine Nieren-Awareness bei allen Beteiligten.